Zuletzt geändert: 30.09.1997
 Die Bibel und ihre Welt 

Entstehung des neutestamentlichen Kanons

Was ist eigentlich ein Kanon ?

Wer an ein Gesangsstück gedacht hat, liegt hier völlig falsch. :-)

Unter dem Kanon versteht man im Zusammenhang mit der Bibel eine als verbindlich anerkannte Auswahl von Schriften. Im konkreten Fall geht es um die 27 Bücher, die Eingang in das Neue Testament gefunden haben, und wie der Prozeß ihrer Auswahl verlief.

Die Notwendigkeit eines Kanons

Die vier heute in der Bibel zu findenden Evangelien sind sämtlich in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts entstanden. Die neutestamentlichen Briefe teilweise sogar schon ab 50 n.Chr. Zu Beginn des zweiten Jahrhunderts waren Abschriften dieser Dokumente den christlichen Gemeinden ihrer Zeit höchst wertvoll und begehrt. So wertvoll, daß Christen - vor die Wahl gestellt, ihr eigenes Leben zu retten oder ihre heiligen Schriften herzugeben - eher bereit waren zu sterben.

Vielleicht war es der ungemein hohe Wert dieser Schriften, der Fälscher auf den Plan rief. Vielleicht auch der Wunsch, später entstandene geistliche Strömungen im Christentum repräsentiert zu sehen - Vorläufer dieser Auseinandersetzung entdeckt man schon in den neutestamentlichen Schriften. Oder der Wunsch, von den Evangelisten nur knapp überlieferte Begebenheiten auszuschmücken und vermeintliche Lücken wie die Kindheit Jesu zu schließen. Vermutlich von allem etwas. Jedenfalls entstand ein zunehmender Wildwuchs an gefälschten Briefen und Evangelien. Die Phantasie trieb Blüten, so soll Christus selbst einen Briefwechsel mit einem gewissen Abgar Uchomo, Fürst der Stadt Edessa, geführt haben.

Wollte man die zuverlässige Überlieferung von Christus retten, wurde es also dringend notwendig, diesen ausufernden Wildwuchs zu sichten: Zu klären, welche Schriften man anerkennen konnte und welche man verwerfen mußte, kurz: einen "Kanon" zu bilden.


Der Vorreiter: Marcion

Der erste Kanon wurde um 140 n.Chr. aufgestellt, doch war er leider alles andere als hilfreich. Stammte er doch ausgerechnet von dem Haupt einer gnostischen Sekte, von Marcion. Auf die Person Marcions und ihre Bedeutung an dieser Stelle einzugehen, würde zu weit führen. Sein Kanon jedenfalls umfaßt nur ein gestutztes Lukasevangelium und zehn Paulusbriefe, die überdies noch an seine gnostische Sichtweise angepaßt wurden.

Die übrigen Christen waren sich in ihrem Urteil zu diesem (Mach)werk zwar eins. Dennoch gewann der Marcionitismus Einfluß und wuchs sich in der Folgezeit zu einer Bedrohung für die junge Kirche aus. Und es gab keinen eigenen eigenen Kanon, den sie dem marcionitischen entgegegensetzen konnten.

Der Kanon Muratori

In der Folgezeit wird man eine Auseinandersetzung um diese Fragen vermuten dürfen. Eine weitere Spur auf dem Weg zum neutestamentlichen Kanon ist der sogenannte Kanon Muratori, der um 1740 von einem Mailänder Bibliothekar desselben Namens entdeckt wurde. Er wird auf die Zeit um 200 n.Chr. datiert.

Hierin findet sich bereits eine klare Trennung zwischen den "offiziellen Herrenberichten" und den zu verwerfenden Schriften. Als kanonisch betrachtet wurden die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, die Offenbarung des Johannes, die Briefe des Paulus, Johannes, Judas, weiterhin die Petrus-Apokalypse, die heute nicht mehr im Kanon ist. Nicht anerkannt wurden von dem Verfasser jedoch auch Schriften, die heute in der Bibel enthalten sind: die Briefe des Petrus, der Hebräer-, der Jakobus- und der 3. Johannesbrief.

Zwei Hauptströmungen

Ab dem Jahre 200 verläuft der Prozeß der Kanonbildung - entsprechend der kulturellen Gegebenheiten der damaligen Welt - in zwei voneinander unabhängigen Hauptströmungen: Einmal bei den Griechen und einmal bei den Lateinern, wozu nicht nur die Römer, sondern die ganze lateinisch sprechende Welt zu rechnen ist.

Der Schlußpunkt

Als offizielles Ende der Kanonbildung kann man das Jahr 367 ansehen, in dem der Bischof Athanasius von Alexandrien in einem Osterfestbrief diesen als erster als allein verbindlich herausstellt. Damit war der Schlußpunkt gesetzt.


Fazit

Der neutestamentliche Kanon ist als Ergebnis eines langfristigen und durchdachten Entwicklungsprozesses anzusehen. Die voltairesche Polemik (die Anlaß zu diesem Artikel gegeben hat), daß man den Kanon auf dem Konzil zu Nicäa durch Werfen von Schriften ermittelt habe, kann man also getrost zu den Akten legen.

Auf der anderen Seite muß aber auch festgehalten werden, daß das Neue Testament nicht gleich nicht mit dem Abschluß der Offenbarung in unserer heutigen Form vorlag. Sondern daß man sich die Mühe gemacht hat, ausgiebig und sorgfätig zu prüfen. Und dabei auch nicht davor zurückgeschreckt ist, heute im Neuen Testament wiederzufindende Schriften erst mal zu bezweifeln.